„Die Sonne wird am nächsten Tag aufgehen, wie am Tag zuvor“ – André Fuhr im Interview

Der aktuelle BVB-Trainer André Fuhr hat in Blomberg eine wahre Ära geprägt. Am kommenden Samstag (03. April, 16:30 Uhr, live auf www.LZ.de/HSG) kommt er mit seinem Team zurück nach Blomberg. 16 Jahre hatte der gebürtig aus Hille stammende Ostwestfale das Traineramt in der Nelkenstadt inne, ehe er sich im März 2018 dazu entschied ein neues Kapitel seiner Karriere aufzuschlagen. Nun, drei Jahre später, steht André im Alter von 49 Jahren kurz vor dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft und kann auf eine spannende und ereignisreiche Zeit zurückblicken: Wechsel nach Metzingen, wenig später die überraschende einvernehmliche Trennung trotz sportlichen Erfolgs, dann die Übernahme des Traineramts in Dortmund. Darüber hinaus zeigt sich der ehemalige Blomberger Coach seit September 2020 auch als Nationaltrainer der weiblichen U20 verantwortlich und kam bei der EM 2020 unverhofft sogar zu seinem Debüt im Trainergespann der A-Nationalmannschaft der Frauen.

*Das Interview wurde bereits am 17. März für das HSG-Hallenmagazin ANWURF geführt.

ANWURF: Wenn du auf die vergangenen Jahre zurückblickst, hättest du dir deinen Werdegang nach deinem Weggang so vorgestellt?

André Fuhr: Naja, meine Absicht war es schon, länger in Metzingen zu bleiben. Aber ich bin 2018 gegangen, mit dem Ziel, um die deutsche Meisterschaft zu spielen und Titel zu gewinnen. In Blomberg hatte ich immer viel Freude mit der Entwicklung von Talenten, nun fühle ich mich auch in der Rolle des Titelanwärters sehr wohl.

ANWURF: Wir wollen gar nicht zu weit in der Vergangenheit wühlen, schließlich bringt deine Zeit bei den Dortmunderinnen genug spannende Geschichten mit sich. Ungefähr vor einem Jahr um diese Zeit standest du in deiner Premierensaison beim BVB schon einmal kurz vor dem Gewinn der Meisterschaft. Es folgte der Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland, der Abbruch der Handball Bundesliga Frauen und wenig später die Entscheidung der Liga, keinen Meister zu küren. Diese Entscheidung ist bundesweit nicht nur auf Verständnis gestoßen und wurde auch von eurer Seite scharf kritisiert. Ist das Thema für dich mittlerweile komplett abgehakt, oder wurmt es dich auch mit einem Jahr Abstand noch?

André Fuhr: Ich halte die Entscheidung in der Diskrepanz zu den Männern immer noch für falsch. Handball ist Handball und da hätte man in meinen Augen eine einheitliche Lösung für Männer und Frauen finden müssen. Dass es sich um zwei verschiedene Ligen handelt, werden viele, die sich nicht tiefer mit der Sportart beschäftigen, nicht verstanden haben. Wenn man ein ganzes Jahr lang hart auf das große Ziel, die Meisterschaft, hinarbeitet, eine wirklich sensationelle Saison spielt und am Ende mit leeren Händen dasteht, fühlt es sich so an, als hätte man ein Stück weit umsonst gearbeitet.

ANWURF: Ganz wertfrei die Frage: Hätte der Titel damals für dich einen Beigeschmack gehabt?

André Fuhr: Ich glaube, wer vorne steht, hat den Titel auch verdient. Zwei Jahre später hätte sicherlich niemand mehr nach dem „Wie?“ gefragt. Was bleibt, ist, dass du Deutscher Meister geworden bist. Das ist für die Geschichtsbücher und für die Ewigkeit. Da hätte man in 20 Jahren noch mal auf die Liste geschaut und hätte gesehen, dass das der erste Titel für Borussia Dortmund gewesen wäre. Wir waren dazu noch im Pokal-Final4, es wurde kein Supercup ausgespielt – da hat man uns definitiv um eine Reihe von Titelchancen gebracht. Das hatten wir nicht selbst in der Hand und das hat sich nicht gut angefühlt. Wir waren sehr erfolgreich, konnten aber nichts ernten.

ANWURF: Denkst du, ihr konntet die damalige Frustration in dieser Saison auch, getreu dem Motto „Jetzt erst recht!“, in Extra-Motivation umwandeln?

André Fuhr: Ach…ich denke eher nicht. Im September letzten Jahres hat für uns eine neue Saison begonnen und wir haben dieses Thema dann irgendwann auch abgehakt. Ehrlicherweise haben wir die Thematik aber schon noch eine ganze Weile mit uns rumgetragen, da lange unklar war, ob wir noch ein Final4 oder den Supercup spielen. So hat uns das Ganze noch weit bis in die Vorbereitung verfolgt. Als dann klar war, dass auch diese Wettbewerbe nicht nachgeholt werden, musste man sich mit der Entscheidung abfinden und konnte dann irgendwann auch einen Haken dran machen. Wir wollen dieses Jahr Deutscher Meister werden und das ist völlig losgelöst vom vergangenen Jahr.

ANWURF: Aktuell rauscht ihr verlustpunktfrei durch die Liga. Hättest du das zu Beginn der Saison für möglich gehalten, dass ihr nach aktuell 22 absolvierten Spielen ohne einen einzigen Minuspunkt dasteht – und dass trotz der hohen Belastung aus Champions League und Liga?

André Fuhr: Das konnte man so nicht erwarten und planen. Deshalb sind wir sehr froh, dass die Situation aktuell so ist, wie sie ist. Da spielen viele Faktoren mir rein. Die große Belastung und die hohe Anzahl an Spielen sind ein wichtiger Punkt. Zu den Vereinswettbewerben kommt auch noch, dass Mannschaften wie Bietigheim und wir eine hohe Anzahl von Nationalspielerinnen stellen, die zusätzlich viele EM-Spiele absolviert haben. Da bleibt kaum Zeit zur Regeneration und das stellt mich auch im Trainingsalltag noch einmal vor ganz andere Aufgaben. Wir sind bislang ohne große Verletzungen durch die Saison gekommen – toi, toi, toi – und sind noch frisch! Darüber hinaus spielen noch Punkte wie das Thema Corona, welches die Spielerinnen mental vor eine besondere Situation stellt, oder auch die lange Wettkampfpause vor dem ersten Spiel eine Rolle, die man im Vorfeld schwer berechnen konnte.

ANWURF: Am 31. März kommt es nun zum großen Showdown gegen Bietigheim (19:30 Uhr, live auf Sportdeutschland.TV). Wir nehmen an, dass du dir auch im Falle eines Sieges drei Tage später in Blomberg noch nicht zur Meisterschaft gratulieren lässt?

André Fuhr: Absolut richtig! Mir dürft ihr erst zur Meisterschaft gratulieren, wenn wir am Ende nicht mehr eingeholt werden können. Wir wissen aber, dass wir gute Karten in der Hand haben und der Druck im kommenden Spiel auf Bietigheim liegt. Auch sind wir uns bewusst, dass wir bei diesem Spiel eine Vorentscheidung schaffen können. Da wollen wir nicht drum rumreden.

ANWURF: Also hast du dich auch noch nicht mit dem Thema beschäftigt, wie man eine Meisterschaft in diesen Zeiten eigentlich standesgemäß feiert?

André Fuhr: Null Komma null. Manchmal denkt man aber darüber nach, was wir für tolle Siege gefeiert haben, die leider nie jemand live in der Halle gesehen hat. Darunter leiden die Emotionen und man kann die Freude nicht so ausleben, wie in einer normalen Saison. Aber wir sind privilegiert, dass wir spielen können und ich bin überzeugt davon, dass das gut für den Handball, bis hin zur Basis, ist, dass wir weiter präsent sein dürfen. Damit, dass aktuell keine Zuschauer da sind, musste man sich arrangieren. Das ist mittlerweile schon fast traurige Normalität. Dennoch schaffen es die Spielerinnen, dies auszublenden und bieten guten Handball.

ANWURF: Aber sicherlich wirst du sagen können, was dieser Erfolg, sollte er denn eintreffen, für eine Bedeutung für dich hätte?

André Fuhr: Es ist nicht mein Lebensziel. Die Sonne wird am nächsten Tag genauso aufgehen, wie am Tag zuvor. Daher möchte ich meine eigene Handballzeit nicht an einer Deutschen Meisterschaft messen. Ich bin weggegangen, um Titel zu holen und um auf eine andere Klientel an Spielerinnen zu treffen, nämlich die, die schon Nationalspielerinnen sind. Da wollte ich herausfinden, ob ich auch solche Spielerinnen weiterentwickeln kann und habe mit großer Zufriedenheit festgestellt, dass das möglich ist. Das gibt mir ein gutes Gefühl und an dieser Entwicklung messe ich mich schon eher.

ANWURF: Am 3. April gibt es dann die Rückkehr in dein altes Wohnzimmer. Wie groß ist die Vorfreude bei dir, in Blomberg ein paar deiner alten Weggefährten wiederzutreffen?

André Fuhr: Man steht an einem solchen Tag natürlich unter Anspannung. Aktuell stehen wir unter dem Druck, überall die Punkte einfahren zu müssen. Darunter leidet auch die Vorfreude, dass ich in Blomberg alte Weggefährten wiedertreffe. Abseits der Spiele habe ich aber weiterhin viel Kontakt zu Björn Piontek, Torben Kietsch, Rudi Kaup und einigen anderen. Das zeigt mir auch, dass man Dinge richtig gemacht hat, wenn solche Kontakte bestehen bleiben.

ANWURF: Es ist erst dein zweites Pflichtspiel in Blomberg seit deinem Weggang. Wie optimistisch bist du, dass du am 3. April auch deinen ersten Pflichtspielsieg als Gästetrainer in der Halle an der Ulmenallee einfährst?

André Fuhr: Ich schätze die Entwicklung der Blomberger Mannschaft sehr. Das ist wirklich überragend. Wir müssen aufpassen, dass wir nach dem Sieg vor 14 Tagen nicht denken, uns Überheblichkeit leisten zu können. Ich werde Blomberg zumindest auf keinen Fall unterschätzen.

ANWURF: Einer deiner ehemaligen Schützlinge, Nele Franz, sorgt aktuell für viel Furore. Hättest du ihr eine solche Entwicklung zugetraut oder bist du im positiven Sinne überrascht?

André Fuhr: Ich weiß um ihre große Qualität, um ihr großes Herz, um ihren Kampfgeist und die hohe Identifikation mit dem Verein. Dass ihre Entwicklung nun so steil geht, hat, glaube ich, niemand erwartet – auch ich nicht, auch sie nicht. Es ist sensationell, was der junge Blomberger Rückraum mit Ann Kynast, Marie Michalczik und Nele aktuell für Leistungen abruft.

ANWURF: Die Förderung von Talenten kommt ja auch aktuell nicht zu kurz bei dir. Seit September 2019 bist du zusätzlich noch Trainer der U20-Nationalmannschaft. Hattest du dort aufgrund der Corona-Situation überhaupt schon Gelegenheit deine Schützlinge kennenzulernen?

André Fuhr: Mit dem letzten Jahrgang habe ich anderthalb Jahre gearbeitet, ohne auch nur ein Länderspiel absolviert zu haben. Eigentlich stand 2020 eine WM in Rumänien an, welche jedoch ausgefallen ist. Nun bin ich diese Woche vom 14. bis zum 21. März mit dem nächsten Jahrgang auf einem Lehrgang in Großwallstadt. Wenn alles gut läuft, absolvieren wir in dieser Woche auch zwei Länderspiele. Ich bin dabei nicht so sehr dafür zuständig die Spielerinnen weiterzuentwickeln, sondern ein Team zusammenzubauen. Das ist eine spannende neue Herausforderung für mich. Die Arbeit mit jungen Talenten hat mir schon immer große Freude bereitet. Da schließt sich für mich ein Kreis.

ANWURF: Nächstes Ziel mit der U20-Nationalmannschaft ist die EM 2021 in Slowenien. Was traust du deinem Team dort zu?

André Fuhr: Wir haben eine hochtalentierte Truppe und werden einige Spielerinnen mit Sicherheit auch irgendwann in der A-Nationalmannschaft wiedersehen. Wie wir aktuell im internationalen Vergleich dastehen, kann keiner sagen. Wir haben Spielerinnen dabei, die wochenlang nicht trainieren konnten, haben Spielerinnen dabei, die jeden Tag trainieren – so wird es auch anderen Nationen gehen. Da eine Prognose abzugeben ist schwierig.

ANWURF: Unterstützung bekommst du dabei auch von deiner/unserer ehemaligen Spielerin Gisa Klaunig. War sie deine Wunschkandidatin für den Posten der Co-Trainerin oder wie kam es dazu?

André Fuhr: Mit Sabrina „Erbse“ Richter ist sogar noch eine zweite ehemalige Blombergerin als Physiotherapeutin mit an Bord. Ist tatsächlich aber beides Zufall. Beide Personalien waren Entscheidungen des DHBs. Ich bin aber froh, weil ich mit Gisa sehr gut auskomme, wir uns gut kennen und ich von ihrem Talent als Trainerin überzeugt bin.

ANWURF: Im Dezember 2020 hast du dann auch etwas unverhofft deine Premiere im Trainerteam der A-Nationalmannschaft gefeiert. Ist damit, ungeachtet der Umstände, ein kleiner Trainertraum in Erfüllung gegangen?

André Fuhr: Es war auf jeden Fall ein Abenteuer und spannend zu sehen, wie bei einem solch großen internationalen Turnier gearbeitet wird. Interessant auch zu erfahren, wie groß die Drucksituation sein kann, da die Aufmerksamkeit auf die A-Nationalmannschaft noch mal eine ganz andere ist. Es hat mir aber sehr viel Spaß gemacht und war natürlich eine große Ehre für mich.

ANWURF: Ein weiteres spannendes Abenteuer hast du diese Saison mit der Teilnahme an der Champions League erlebt. Wie waren da deine Erfahrungen in dieser speziellen Zeit?

André Fuhr: Es hat Spaß gemacht und war sportliche eine richtig gute Erfahrung. Der Unterschied vom Mittelfeld der Liga zum Mittelfeld der Champions League ist gewaltig. Man lernt andere Spielweisen kennen, muss sich mit diesen auseinandersetzen und insgesamt viel präziser arbeiten – sowohl als Trainer als auch als Spielerin. Natürlich ist uns aber auch dabei einiges verloren gegangen. Leere Hallen, wo sonst 2.500 Zuschauer für ordentlich Stimmung sorgen, keine Aufenthalte in den jeweiligen Städten – der Europapokal-Flair blieb auf der Strecke.

ANWURF: Ein bisschen schade ist es mit Blick auf die positive Entwicklung, dass der BVB im Sommer einen größeren Umbruch durchmacht. Wie zuversichtlich bist du trotzdem, dass ihr auch im nächsten Jahr ganz weit vorne im Kampf um die Meisterschaft mitmischt?

André Fuhr: Wir werden auch im nächsten Jahr um die Meisterschaft mitspielen. Entwicklungen und Veränderungen gehören dazu. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir wieder eine schlagkräftige Mannschaft mit interessanten Spielerinnen an den Start bringen.

ANWURF: Danke für deine Zeit und weiterhin viel Erfolg, André!

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